„Big Data braucht Ethik“ – Gastbeitrag von Lars Klingbeil im Handelsblatt

Es ist höchste Zeit für eine Datenethikkommission in Deutschland, findet Lars Klingbeil. Erschienen im Handelsblatt vom 15. März 2016, Seite 14/15:

"Daten sind der entscheidende Rohstoff der kommenden Jahrzehnte. Zugleich sorgen sie für einen der größten Konflikte moderner Gesellschaften: Die Sammlung, Auswertung und Verarbeitung von Daten sorgt für Innovationen, Wachstum und Arbeitsplätze. Gleichzeitig werden wir aber auch transparenter, steuerbarer und somit verwundbarer. Privatheit wandelt sich, Überwachungsmöglichkeiten steigen. Künstliche Intelligenz ist auf dem Vormarsch, Algorithmen können uns zukünftig komplexe Entscheidungen abnehmen, drohen aber die menschliche Entscheidungsautonomie unbemerkt zu beeinflussen.

Rechtliche und ethische Fragen sind ungeklärt: Wie können Konfliktsituationen aufgelöst werden, wenn Maschinen und Algorithmen schneller und effektiver entscheiden können als der Mensch? Welche Entscheidung auf welcher Grundlage trifft das Auto, wenn ein Unfall nicht mehr zu vermeiden ist? Lenkt es in den Wagen mit den wenigsten Insassen? Den sichersten Wagen? Den der Konkurrenzmarke? Das mag ein konstruiertes Beispiel sein, aber die Antwort auf diese und unzählige weitere Fragen im Zusammenhang mit Daten, Maschinen und künstlicher Intelligenz sind unbeantwortet.

Lassen wir zu, dass Roboter lebensgefährliche Operationen durchführen, weil sie präziser arbeiten können als der am besten ausgebildete Arzt? Lassen wir zu, dass Versicherungen gesundheitliche Risiken auf Grundlage von intimsten persönlichen Gesundheitsdaten bewerten, weil dies eine bessere Finanzierung des Gesundheitssystems ermöglicht? Einen Prozess, um all diese Frage zu klären, gibt es nicht. Entscheidende Fragen werden vertagt.

Wir befinden uns in einer entscheidenden Zeit, die politisch gestaltet werden muss. Deutschland muss bei digitalen Innovationen besser werden und den Rückstand zu den USA und anderen digitalen Vorreitern aufholen. Eine innovative Datenpolitik ist dafür der entscheidende Hebel. Wenn wir mit guten Argumenten den amerikanischen Weg des Daten-Laissez-faire nicht mitgehen wollen, brauchen wir dringend einen breiten gesellschaftlichen Konsens über den Umgang mit Daten und den damit verbundenen Spannungsfeldern.

Große gesellschaftliche Fragestellungen wurden in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit sehr erfolgreich in Regierungskommissionen beraten. Zuletzt im Zusammenhang mit dem Atomausstieg in der "Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung“. In den USA hat zuletzt die Big-Data-Kommission unter John Podesta der Regierung Obama ihre Vorschläge unterbreitet.

Es ist Zeit für eine Datenethikkommission in Deutschland, die unter Einbeziehung aller gesellschaftlich relevanten Akteure dem Parlament und der Regierung einen Entwicklungsrahmen für Datenpolitik, den Umgang mit Algorithmen, künstlicher Intelligenz und digitalen Innovationen vorschlägt.

Über eine solche Kommission könnten wir Geschwindigkeit in die digitale Entwicklung bringen, einen Weg definieren, der Spannungsfelder auflöst und die Chancen der Digitalisierung intensiver nutzt. Solange wir die ethischen Fragestellungen nicht beantworten, bleibt Datenpolitik ein Schlagwort ohne Substanz."